Ein Hoch auf die Schönheit

Hast du schon einmal ein Stück Baumrinde betrachtet? Wirklich betrachtet, meine ich?

Bist mit deinen Finger über die Rillen und Furchen gefahren und hast darüber gestaunt, wie sie immer wieder in ihren Bahnen unterbrochen werden und dennoch zur selben Zeit ins schier Unendliche weiter zu führen scheinen? Hast die Augen geschlossen und die Rauheit der borkigen Rinde unter deinen Fingerspitzen nachgespürt? Wie uralt sie sich anfühlt und dennoch durch und durch lebendig. Ist dir der Verlauf der Farben ins Auge gesprungen, wie Bärenfellbraun schrittweise hin zu Blumentopfterracotta wandert und sich mit einem Mal freches Moosgrün dazwischen wirft, als wolle es die beiden um jeden Preis auseinanderhalten? Und dann die Flechtentupfen in Eierschale hie und da. Beinahe wie Sommersprossen bekleiden sie so einen Baumstamm für gewöhnlich.

Hast du dich schon einmal geachtet, wie viel kriechendes Leben sich auf einem bloss kleinen Stück Baumrinde tummelt? Ameisen beim flink den Rillen entlang wieseln beobachtet, kleine Käfer und Spinnen, die sich vorsichtig aus Ritzen und Mulden wagen, als würden sie frühmorgens verschlafen die Haustüre öffnen, um erwartungsvoll den neuen Tag zu begrüssen? Bist du dir des Geruches gewahr geworden, der von einem Baumstamm auszugehen pflegt? Dieser eigentümlich kraftvolle Duft nach Holz, Erde, Alter und – wie soll ich es anders nennen als – Leben?

Hast du zum Schluss deinen Kopf in den Nacken gelegt und den Blick erhoben, den ganzen Stamm hinauf bis er sich in immer mehr und feinerem Geäst verliert, das umeinander herumtanzt, sich biegt und wendet und in Richtung Himmel streckt, in die große, weite Welt hinaus? Hast du versucht, all die Blätter zu zählen, die auf dich herabzublicken schienen wie Sterne am Nachthimmel und bereits nach dem vierundfünfzigsten lachend damit aufgehört?

Bist du erstmal still dagestanden mit grossen Augen und hast dich dann ein paar Mal im Kreis gedreht, langsam und dann schneller, mit noch immer erhobenem Blick, sodass sich die Baumkrone treu ergeben mitdrehte und die Sonne kleine, oszillierende Lichtstrahlenbündel durch die kleinsten Lücken im riesigen Blätterdach blitzen liess?

Hast du all die Schönheit gesehen, die sich dir dabei offenbarte, konntest du sie fühlen, zusammen mit einem kleinen Stück vom grossen Glück? Ich wünsche es dir.

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