Für die Frau mit der Vorliebe für Bilder

An vieles von früher erinnere ich mich nicht mehr. Du schon. Manchmal stelle ich mir dein Gehirn vor wie einen dieser alten Fotoapparate, an denen ein Vorhang befestigt war, unter welchem Fotografen verschwanden, um bildhafte Erinnerungen in Schwarz-Weiss zu schiessen. Ich könnte stundenlang an irgendeinem Tisch in der hintersten Ecke einer spärlich beleuchteten Kneipe sitzen, den Kopf auf meine aufgestützten Arme gebettet und zuhören, wie du von damals erzählst.

Du erinnerst dich an Dinge, die für mich ähnlich dunstig wirken, wie der Blick durch die beschlagenen Scheiben eines Autos, in welches sich in einer kalten Januarnacht vier erhitzte Körper quetschen, um mit glühenden Wangen einem frostigen Morgen entgegenzufahren.

Ich habe keine Ahnung, wie dein Gehirn fähig ist, in allen Details abzuspeichern, welchen Pulli du an der Weihnachtsfeier im Kindergarten getragen hast, wie genau das Muster des Vorhangs aussah, der an jenem Fenster hing, auf dessen Sims wir jahrelang unsere Wunschzettel für das Christkind legten und was an deinem ersten Skianzug so viel schöner war als an meinem. Ich schüttle fasziniert den Kopf, wenn du mir Räume und ihre Einrichtungen bis ins kleinste Detail schilderst, die wir beide seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr betreten haben.

Ich erinnere mich eher an Stimmungen und Zwischentöne, an Gesagtes oder Geschwiegenes und du ergänzt all das mit Farben und Formen. Du modellierst mich damit zurück in eine Zeit, die ich in jeder Faser meines Herzens konservieren möchte. Weil sie die einzige Zeit in meinem bisherigen Leben war, da ich mich sicher und geborgen fühlte. Jedes Mal, wenn du von früher erzählst, es ganz genau beschreibst und meine schemenhaften Erinnerungen, die wie eine Tanzfläche um drei Uhr nachts anmuten – eine unwirkliche Mischung aus Dunkel, verirrten Lichtblitzen und Dunst des Augenblicks – aufklaren lässt, gibst du mir ein bisschen davon zurück.

Auf dass dir nie die Bilder ausgehen… ob du sie beschreibst oder zu Papier bringst – so als wären deine Gedanken, Worte und Finger alles, was eine Leinwand sich nur wünschen könnte.

(Für S.)

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