»Lass uns nicht wegsehen«

Letztens habe ich weggesehen, als ich dich auf der gegenüberliegenden Strassenseite habe stehen sehen. Den Blick abgewendet und meinen Kopf in eine andere Richtung gedreht, habe ich. In eine, aus der ich dich nicht mehr erahnen konnte, in der du einfach nicht vorkamst. Es gab Zeiten, da wollte mein Blick nichts weiter festhalten als deinen. Es gab Zeiten, da glaubte ich, verschwommen aber dennoch, ein Stück vom grossen Glück in deinen Augen zu erspähen. Es gab Zeiten, da teilten wir uns eine Blickrichtung – eine, die in eine gemeinsame Zukunft wies.

Jene Zeiten liegen hier und jetzt im Damals. Irgendwo am Rande eines dunstigen Gesterns mit einigen Dutzend mal »vor« vornedran. Vielleicht sind es sogar noch einige mehr. Mehr »vor« im Tausch gegen »noch immer«. Ich weiss ja nicht, wie es dir geht, aber mir tut das alles noch immer weh.

Was denkst du, lag es an uns? Dass unsere hin und hergehenden Blicke dem gemeinsamen Leben nicht allzu lange standhalten, nicht auf Augenhöhe begegnen konnten? Das ist doch irgendwie scheisse, findest du nicht? Aber ja, auch Scheisse passiert. Nun mal eben so. Und gerade deswegen sollte ich nicht einfach so wegschauen, wenn ich dich sehe. Heute oder morgen oder übernächstes Jahr. Dumm nur, sind »sollte-hätte-würde«-Sätze für gewöhnlich leichter mal eben so dahergesagt, als tatsächlich und wahrhaftig getan.

Trotzdem. Sei nicht albern! Ich verlangsame meine Schritte und drehe den Kopf langsam und mit ungestüm klopfenden Herzen in eben jene Richtung, in der ich dich vermute, in der du bloss Augenblicke zuvor noch gestanden und auf den Bus gewartet hast. Doch da bist du jetzt nicht mehr. Ich bleibe stehen und sehe mich um. Nein, in der Tat, unter all den an der Bushaltestelle Wartenden ist niemand auch bloss annähernd du. Ich runzle verblüfft die Stirn. Ob auch du mich aus dem Augenwinkel gesehen, erkannt und dich aus dem Staub gemacht hast? Oder warst am Ende gar nicht du jene Person, die ich erst vor Minuten beim Vorbeigehen meinte zu sehen?

Ohne gross zu überlegen, zücke ich mein Telefon und wähle deine Nummer. Das erste Mal seit Wochen. Nach einigen »Tuut, Tuut, Tuut’s« höre ich am anderen Ende der Leitung deine, mich noch immer kurz vor zu Tränen rührende Stimme.

»Hallo? Bist du das?«
»Oh, hi. Ja. Sag mal, hast du eben gerade in der Kinkelstrasse auf den Bus gewartet?«
»Ähm, nein. Ich bin bei der Arbeit. Wieso fragst du?«
»Ach, nur so. Ich dachte bloss, dich gesehen zu haben. Wie geht es dir?«
»Nun, es geht so. Und dir?«
»Ich vermisse dich.«
»Scheint, als ginge es uns ähnlich.«
»Ich würde dich gerne um etwas bitten.«
»Um was?«
»Für den Fall, dass wir uns in Zukunft auf offener Strasse, an einer Bushaltestelle, auf einer Strassenkreuzung, im Supermarkt oder wo auch immer zufällig über den Weg laufen sollten – lass uns nicht wegsehen, bevor wir richtig hingeschaut haben, ok?«
»… … Okay.«
»Machs gut.«
»Mach ich. Du auch, ja?«
»Okay.«

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