Weil ein Winken manchmal schwerer wiegt

Ich habe dich heute Morgen gesehen, am Bahnhof, auf dem Bahnsteig gegenüber. Ich habe mich hinter der Plakatwand neben den Sitzbänken versteckt, statt nach dir zu rufen. Du hättest gewunken. Den Kopf schief gelegt hättest du dabei und wärst dagestanden, mit einem ebenso schiefen Lächeln. Einem Lächeln, bei dem ich nie weiss, ob ich mitlächeln und losheulen soll, weil mich irgendetwas jedes Mal in der Magengegend kitzelt, wenn ich es sehe.

Heute Morgen habe ich es nicht gesehen, dein einmaliges Lächeln, da ich mich hinter der Plakatwand versteckt habe. Weil ich nicht hätte zurückwinken wollen. Eher nicht können. Vermutlich hätte ich nicht einmal meinen Arm hochheben können, so schwer wäre er gewesen. Randvoll mit Fragen, die ich schon so lange schweige, all den Hoffnungen, die ich tonlos an dir hege und in deren Stille ein uns mitschwingt, das so fragil ist wie der Moment absoluten Glücks, während man sommernachts kreischend mit Freunden in einen tiefen Bergsee springt.

Nein, nicht einmal meinen Arm hätte ich heute Morgen hochheben können, um zurückzuwinken. Bloss dagestanden wäre ich, mit geschürzten Lippen und Augen, die sich mit Tränen gefüllt hätten, viel zu schnell, als dass ich mich rechtzeitig hätte umdrehen können. Oder am besten gleich wegrennen. Vielleicht hättest du es gar nicht gesehen vom Bahnsteig gegenüber, vielleicht wäre auch just in dem Moment ein Zug eingefahren auf deinem Gleis oder auf meinem. Aber ob du es nun gesehen hättest oder nicht, ich hätte es gewusst. Ich hätte sie gespürt, die heissen Tränen, die mir über die Wangen gelaufen wären. Ich hätte mich geschämt und verwundbar gefühlt, da auf dem Bahnsteig, inmitten fremder Menschen.

Ich wäre wütend geworden, auf dich, weil du mir auf so entwaffnende Art und Weise dein schiefes Lächeln zu schenken vermagst und mich dennoch nicht liebst. Nicht einmal ein ganz kleines bisschen. Und auf mich selbst, weil ich zwar weiss, dass du mich nicht liebst – nicht einmal ein ganz kleines bisschen – das Kitzeln in meiner Magengegend aber einfach nicht verschwinden will. Ebenso wenig wie die Tränen. Diese elenden Tränen, die jedes Mal ein wenig mehr von meinem Stolz wegwaschen. Bis er irgendwann ganz versickert ist und ich dastehe, nackt bis auf meinen Herzschlag, mit hängenden Armen und ohne Verstand.

All das wirst du nie wissen, ich könnte es dir nicht erklären. Deshalb habe ich heute Morgen nicht gerufen, als ich dich sah. Deshalb habe ich mich versteckt. Ebenso wie ich meine Gefühle vor dir verstecke, so gut es geht. Sie schweige und hoffe, dass ihnen irgendwann die Lust vergeht zu warten und sie sich verziehen. Dahin wo der Pfeffer wächst.

Ich hoffe, das tun sie. Wir werden sehen. Spätestens wenn ich eines Morgens nach dir rufe und winke, vom Bahnsteig gegenüber, mit einem ebenso schiefen Lächeln wie glasklaren Augen. Bis es so weit ist, bewege ich mich wann immer möglich im Schutze von Plakatwänden. Weil ein Winken manchmal einfach so viel schwerer wiegt.

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