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Natürlich kann man sich selbst zu jeder vollen Stunde fragen, ob alles richtig ist, so wie es ist, oder zumindest gut, oder auch bloss halbwegs okay. Und wenn man dann dasitzt und selbst im hintersten Winkel dessen, was die anderen »du« nennen, keine passende Antwort findet, wie man sowieso nie irgendwelche Antworten auf Fragen dieser Art findet, kann man tief seufzen. Man kann auch trotzig den Kopf schütteln und sich ein paar Haare ausreißen. Einfach so, weil man nie Antworten findet auf die entscheidenden Fragen in diesem ganzen lächerlichen Zirkus hier und weil so ein bisschen Schmerz und ein Büschel Haare in der Hand die Sache ja schließlich auch nicht schlimmer machen. Nicht wirklich. Nicht heute und vermutlich auch nicht morgen.

Kannst du dich noch erinnern an die Zeit, als wir uns solche Fragen gar nicht erst stellten? Als wir uns kopfüber ins Leben stürzten, obwohl wir nicht schwimmen konnten und prustend nebeneinander her paddelten wie Hunde im See, zuversichtlich und gefühlt leicht wie Sommerkleidchenstoffe. Ich würde so wahnsinnig gerne dahin zurück mit dir, statt hier zu sitzen und mich vor allem zu fürchten, was mir einst bewies, dass ich so etwas wie lebe. So wahnsinnig gerne würde ich mich nicht weiter verstecken vor all den Gelegenheiten, die sich tagtäglich vor mir aufbauen, sich mir in den Weg und mitten in die Zuversicht stellen. Ja, da stehen sie, mit in die Hüften gestemmten Armen und herausforderndem Blick. Und was tue ich? Ich ducke mich seitlich weg, mache mich klein und presse meinen Rücken an die Wand. Wände bedeuten Sicherheit, Wände versprechen »da bleiben«.

Du sagst, wir haben nicht mehr viel gemeinsam, du sagst, von dem, was einst zwischen uns war, ist kaum noch etwas übrig. Die Tage setzen uns unterschiedlich zu. Dir werfen sie Stöckchen zu, denen du hinterher jagst und die dich in Gegenden führen, die dich mit offenem Mund und überdrehtem Herzen staunen lassen.

Auch mir werfen sie Stöckchen zu, bloss fürchte ich mich zu sehr davor, von ihnen getroffen und daraufhin ausgelacht zu werden, dumm dazustehen und die Welt noch weniger zu verstehen. Wenn ich in den letzten Jahren eines gelernt habe, dann wie man Dingen aus dem Weg geht, die einen zum Leben verleiten wollen, zu ein wenig Gegenwart (und der ganze Rest meinetwegen später). Wenn ich eines gut kann, dann andauernd »nein« sagen, ohne jemals tatsächlich »nein« gesagt zu haben.

Am allerliebsten befände ich mich fünfhundertsiebzig Meter tief unter Wasser und würde hochschauen zu euch, bis mir der Nacken weh tut und mein Blick sich immer weiter trübt. Mit wallendem Unterwasserhaar und blubbernden Gedanken stünde ich da und fühlte mich sicher. Sicher und begrenzt vom Druck der Unmengen an Wasser über mir und um mich herum. Grenzen sind schwierig, waren es schon immer. So sehr ich mich nach ihnen sehne, so zuverlässig kommen sie mir stets wieder abhanden. Wenn sich mein Körper mal wieder anfühlt wie dunkle Tusche zum Beispiel, während ich die Straße entlang laufe und mit beiden Armen meine Taille umgreife, aus Angst die ganzen Konturen zu verlieren, die mich ausmachen. Konturen sind wichtig, eine Aussage sind sie und damit auch immer eine Entscheidung für etwas.

Das mit den Entscheidungen ist im Grunde nämlich kein bisschen einfacher als alles andere, was nie einfach war und es vermutlich nie sein wird. Mich machen sie kirre, mich zermürben sie mal eben im Vorbei gehen. Kennst du das Gefühl, hilflos an einer Mauer zu scheitern, die du eigentlich erklimmen solltest? Die alle anderen scheinbar so mühelos erklimmen, mit Anlauf und Hopp, während man selbst wieder und wieder dagegen knallt und hinfällt. Solange bis man irgendwann einfach sitzen bleibt, entmutigt hochschaut und gerade noch einen fremden Fuss über der Mauerkante verschwinden sieht. So weit oben, so verdammt unerreichbar weit oben, eine Handbreit unter den Wolken scheint es beinahe.

Man bleibt kopfschüttelnd sitzen und reisst sich ein paar Haare aus, einfach so, weil man traurig ist und verzweifelt. Weil man weder Entscheidungen trifft, noch Mauern erklimmt, sondern dasitzt und einmal mehr versagt. Dabei würde man wahnsinnig gerne Entscheidungen treffen. Solche, die sich »richtig« anfühlen, bei denen man nicht zweifelt, hin und her überlegt und sich am Ende nie sicher ist, ob man das nun gut gemacht oder mal wieder alles versaut hat. Entscheidungen aus dem Bauch heraus – der eigene Bauch entscheidet nicht, er tut bloss weh – denen man vertrauen kann, weil sie sich gut anfühlen und was sich gut anfühlt, macht schon irgendwie Sinn, nicht wahr?

Ja, die Sache mit dem Sinn. Danach fragt man sich, wenn man morgens nicht weiss, wie man aus dem Bett kommen soll (wozu denn überhaupt) und man es irgendwann dann doch noch schafft. Weil man das eben so tut, nicht weil man etwas vom eben angebrochenen Tag erwartet.

Wenn allein der Gedanke an Zähneputzen, sich anziehen und herrichten, Kaffee machen, sich zurecht und selbst finden im verwirrenden Dämmerlicht mehr ist, als man zu ertragen meint und man es dennoch hinkriegt, den Autopiloten einzuschalten. Einmal mehr und mit einer Menge an Kraftaufwand, für den andere einen auslachen würden. Scheiss drauf, funktionieren ist, was zählt. Funktionieren und vorgeben, man lebe sein Leben, während man nachts im Bett liegt und sich fragt, was man früher eigentlich einmal wollte. Sich ausmalte für das eigene Leben, wovon man träumte und worauf man hoffte und wieso um Himmels willen man sich heute kaum noch daran erinnern kann.

Das Einzige, was einen dann noch zusammenhält, ist der Gedanke an später. Weil später immer anders ist und später alles kann. So ist das zumindest in der Theorie und mehr muss man nicht wissen. Solange die Möglichkeit im Raum schwebt, lege ich mich einfach neben sie und lasse meine Haare meinem Kopf, hier und heute immerhin.

Ich streiche mir selbst über jenen Kopf, auf den ich so oft und gerne verzichten würde und summe leise »If you could only stop your heart beat for one heart…«. Hast du gewusst, dass mein Herz mit morgendlichem Kaffee im Blut jeden Tag wieder aufs Neue leise im Takt zu diesem Leben schlägt? Egal was war, egal was wird, solange es schlägt, geht es schon. Geht es irgendwie, irgendwo und immer weiter im Text.

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