Wir sind nicht

»Wir sind schliesslich nicht auf einem Schiff«, meinte sie mit ernstem Blick und er nickte. Nein, auf einem Schiff waren sie nicht. Ein Blick zur Seite und aus dem Fenster liess keine Zweifel offen.

Die umstehenden Bäume streckten ihnen ihre mit den letzten blassgelben Blättern bestückten Äste entgegen, es wirkte beinahe flehend. Als Passagier auf einem Schiff sah man keine Bäume.

Und dennoch, sie sah die hübsch gedeckten Tische im novembertaghellen Café mit den grosszügigen Fensterfronten, in dem sie sassen, sanft hin und herwiegen. Als sie sich zurück in seine Richtung wandte, fing sie seinen Blick auf – er sah es auch.

Sie bestellten Kaffee und Kuchen, sprachen über dies, schwiegen über das. Wären sie auf einem Schiff gewesen, wären sie vermutlich irgendwann aufgestanden und hinaus auf Deck gegangen, um sich an die Reeling zu lehnen und wortlos ins Wasser hinauszublicken.

Nein, auf einem Schiff waren sie nicht. Wie um sich zu vergewissern, dass das stimmte, stand er urplötzlich auf, spähte aus dem Fenster zu seiner Rechten hinunter auf die Strasse. Sie las Enttäuschung in seinem Blick. Er setzte sich wieder, fing ihren Blick auf. In Gedanken sah sie sich eben noch die Tür ihrer Kajüte schliessen und einen ebenso langen wie schmalen Korridor entlang gehen. Dabei versuchte sie, stets nur dort auf dem weichen Teppich aufzutreten, wo dessen Muster es ihrer Ansicht nach erlaubte.

»Worauf würdest du lieber treten – Rhomben oder Ovale?«

»Dazwischen.«

Auf einem Schiff waren sie sicher nicht. Nicht wahr? Gleichwohl glaubte sie irgendwo hinter den Kulissen ihres Verstandes ein leises Rauschen, ein viel mehr gefühltes, denn tatsächlich wahrnehmbares Brechen von Wellen zu vernehmen.

Nein, es konnte im Grunde wirklich nicht sein – aber es kam ihr noch immer vor, als wiege sie auf ihrem Stuhl, sein Lächeln auf der anderen Seite des Tisches, das gesamte Café, blassgelb bekleidete Äste ausserhalb der grosszügigen Fensterfronten und die Welt jenseits ihrer Wahrnehmung im Takt ihres eigenen Herzschlags sanft hin und her.

18 Kommentare
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Kommentare

  • Bärbel

    Mai 3, 2020 at 9:35
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    Ich hab mich sehr gefreut , wieder was von dir zu lesen ! Danke !!!

    • Emma denkt.
      to Bärbel

      Mai 3, 2020 at 9:38
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      Wie schön das zu lesen, liebe Bärbel. Ich danke dir herzlich fürs Hiersein und Mitlesen.

  • Stattstadtmädchen

    Mai 2, 2020 at 18:45
    Reply

    Ganz bei dir. Sehr dankbar. Ich sende Liebe über die Grenzen zu dir.

    • Eben habe ich deinen neuesten Text »Zeitkonto« gelesen (für alle, die ihn auch lesen möchten: http://stattstadtmaedchen.com/2020/04/26/zeitkonto) und dabei genickt. gelächelt und geweint. Wenn ich könnte, ich würde dich hier und jetzt ganz einfach drücken... ich tue es in Gedanken – […] WeiterlesenEben habe ich deinen neuesten Text »Zeitkonto« gelesen (für alle, die ihn auch lesen möchten: http://stattstadtmaedchen.com/2020/04/26/zeitkonto) und dabei genickt. gelächelt und geweint. Wenn ich könnte, ich würde dich hier und jetzt ganz einfach drücken... ich tue es in Gedanken – über alle Arten von Grenzen hinweg. Read Less

  • Kathrin

    Mai 2, 2020 at 15:47
    Reply

    Wunderschöner Text mit einer wunderschönen Begegnung, vielen Dank! 🖤

  • Margot Neunhäuserer

    Mai 2, 2020 at 13:29
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    Wie schön, beruhigend, lichtblickend … danke von Herzen💖

  • einfach_nur_ada

    Mai 2, 2020 at 9:47
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    ...wunderschöne Zeilen ♥️ Einmal mehr zur richtigen Zeit, liebe Michèle. Von Herzen Danke dafür!

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