Woran ich verzweifle, sind die Pausen

Es gab Zeiten, da habe ich dich gesucht. Tagein, tagaus. Nachtein, nachtaus.

In anderen habe ich mir gewünscht, dich aus Versehen zu verlieren. So wie man Handschuhe verliert, die unbemerkt im Strassengraben landen. Wann immer ich Handschuhe in Strassengräben sehe, wie sie traurig und vergessen daliegen, muss ich weinen. Ein paar Tränen nur, die ich in aller Regel wegwischen kann, bevor es irgendjemandem auffällt.

Was ich gelernt habe, ist, dass man sich ein Versehen nicht herbeiwünschen kann. Weil es dann keines mehr ist.

An manchen Tagen wache ich morgens auf und fühle mich fremd in meinem eigenen Körper, während er neben deinem liegt, der sich müde wegdreht. Wenn ich dann aufstehe, an jenen Tagen, weiss ich nicht recht, wie man sich bewegt, wie man es hinkriegt, dass Ober- und Unterkiefer aufeinanderpassen, ohne dass es sich seltsam anfühlt, wie man richtig atmet oder sich durch die Haare fährt. Alles, was gestern noch selbstverständlich schien, ist mit einem Mal ungewohnt, fühlt sich falsch an und macht Angst.

Ich stehe in der Küche neben der Kaffeemaschine. Du stehst neben mir, fährst dir gähnend durch die Haare, schliesst den Mund, atmest durch die Nase ein und wieder aus. So als wäre es das Leichteste der Welt. Ich beobachte dich verstohlen von der Seite her, versuche zu ergründen, wie du das machst. Es fühlt sich an als hätte ich über Nacht verlernt, in meinem Körper zu sein und ihn korrekt zu bedienen.

Du fragst mich, was los ist. Ich versuche es dir zu erklären und mir wird bewusst, dass ich dafür keine Worte habe – in keiner Sprache, die mir geläufig ist.

Ich möchte bloss den Mund schliessen können und dabei das Gefühl haben, alles wäre an seinem Platz. Was, wenn ich nie mehr den Mund schliessen, atmen, mir durch die Haare fahren kann, ohne dass es sich anfühlt, als hätte ich nicht den Hauch einer Ahnung davon, wie diese Maschine zu bedienen ist, in deren Steuerhäuschen ich sitze?

Woran ich verzweifle, sind die Pausen, in welchen alles stockt und erst beinahe unmerklich, dann immer unablässiger verschwimmt. Erkennbar bleibt nichts weiter als das leise Echo jenes konstanten Lärms, der sich an den meisten Tagen vom Kopf her einmal quer durch mein Sein zu wühlen scheint.

Ich habe dich nicht verloren. Weder aus Versehen noch aus Absicht. Gleichwohl fühlt es sich an, als würde ich dich immer wieder aufs Neue suchen. Und mit dir vielleicht auch mich selbst.

37 Kommentare
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Kommentare

  • Renate Hackl

    Januar 15, 2020 at 17:12
    Reply

    Für mich klingt es sehr traurig. Herzlichen Gruß Renate

  • Valerie

    Januar 15, 2020 at 15:17
    Reply

    Sehr, sehr schön!!! :)

  • Simi

    Januar 15, 2020 at 13:22
    Reply

    Außergewöhnlich, treffend formuliert, soviel Herz. Manches über das du schreibst so vertraut. Worte finden in einer Sprache die mir nicht geläufig ist ......

    • Emma denkt.
      to Simi

      Januar 15, 2020 at 13:32
      Reply

      Ich danke dir fürs Lesen und das schöne Kompliment zum Text, liebe Simi.

  • einfach_nur_ada

    Januar 15, 2020 at 13:02
    Reply

    Herzberührend schön, liebe Michèle. ♥️

  • Franzi Waldner Stattstadtmädchen

    Januar 15, 2020 at 10:28
    Reply

    Beobachtungsgabe made in writers heaven ❤️

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