Wir sind noch immer hier

Manchmal sind da keine Eigennamen und Fachbegriffe, ja nicht einmal erklärende Worte für das, was einen im Leben einholt und überrennt, stolpern oder gar hinfallen lässt.

Als Jugendliche und junge Erwachsene wünschte ich mir, dass mich irgendjemand, der Ahnung hat, einfach lange genug anschauen und analysieren würde, um in Worte fassen zu können, was mit mir nicht stimmt. Ich wollte mich erkannt und aufgehoben fühlen, sorgsam eingeordnet und in einer passenden Schublade jenes weitläufigen Regals namens »Leben« verstaut.

Ich sehnte mich nach einer Antwort auf die Frage, was mich immer wieder von anderen wegreisst, mich einsam unter vielen fühlen lässt, voller Angst und überlaufenden Emotionen. Woher all der Groll und die Strenge mir gegenüber rühren, wollte ich wissen und weshalb mein Körper sich seit ich denken kann selbst zu bekämpfen scheint. Mir lag daran, zu verstehen, weshalb da für gewöhnlich zwei Zustände sind, zwischen denen ich hin- und herpendle: Das Gefühl stumm verebben oder aber lautstark bersten zu müssen. Manche Antworten habe ich im Laufe der Jahre erhalten, andere glaube ich immerhin zu erahnen, einige sind noch offen – und werden es womöglich bleiben.

Hin und wieder spielt es unfair,
das Leben, lacht über einen,
nuschelt A und meint K,
verspricht B und tut scheissweh.
Ich bin
noch immer hier.
Taumelnd vielleicht,
mich manchmal von einem Tag
zum nächsten rettend.

Gleichwohl meine ich zumindest an besseren Tagen erkannt zu haben, dass es für mich persönlich mit jedem neu heranbrechenden Morgen auch um den Versuch geht,

…übermütiges Leben im Spiegelbild zu erkennen und mich von jenem hin- und herwerfen, fliessen und strudeln zu lassen.

…Entscheidungen zu treffen, ohne zu wissen, ob sie sich als »richtig« oder »falsch« herausstellen und ob es eine Rolle spielt.

…Türen und Fenster zu meinem Herz und Geist so oft und lange wie möglich sperrangelweit offen stehen zu lassen.

…den Blick für all das Schöne nicht zu verlieren, egal wie unscheinbar oder nebensächlich es auf Anhieb scheinen mag.

…der Angst wann immer möglich in die Augen zu schauen und damit mir selbst direkt ins Herz.

…mich immer wieder zu fragen, was ich möchte und was weniger, wo ich hinwill und wohin lieber nicht.

…den Mut zu entwickeln, Antworten auf gestellte Fragen hören zu wollen, ganz egal wie sie ausfallen.

…mit anderen statt gegen sie zu leben und dabei auch Wege, die nicht meine sind, als solche zu respektieren.

…mich um mich zu kümmern und mir selbst ein Zuhause zu sein, so gut ich es kann.

…kurze Augenblicke des Glücks anzunehmen und zu erahnen, dass sie dort auftauchen, wo ich ihnen Zeit und Raum schenke.

 

Entwicklung

 

Ich wünsche dir, dass du trotz allem, was dich ängstigt und überfordert, fortzieht oder hinhält, nie den Mut verlierst – mag er sich hin und wieder noch so leise und zaghaft anfühlen – einen neuen Versuch zu wagen.

Heute.
Morgen.
Übernächste Woche Donnerstag.
Im kommenden Frühling.
In fünfzehn Jahren.

Ich bin in der Vergangenheit so manches Mal gescheitert. Weiter ging es dennoch, irgendwie – vielleicht auch eben deswegen. Will ich damit sagen, dass es einen nicht an den Rand der Verzweiflung und darüber hinaus bringen kann, tausendundeinen Versuch zu wagen und gefühlt nicht zu bestehen? Mitnichten. Ich weiss aber auch, dass man nach keinem eingegangenen Wagnis dieselbe Person ist wie davor. Und so glaube ich mittlerweile nicht mehr daran, dass Versuche (wozu auch immer) zwingend erfolgreich umgesetzt werden müssen, um Entwicklung in Gang zu setzen, sondern dass sie schlicht immer und immer wieder aufs Neue stattfinden müssen.

Es kann lange dauern, mühsam sein und mehr Kraft kosten als man zu haben meint, um Schritt für Schritt neue Trampelpfade zu ebnen. Ich glaube, es ist all das und mehr wert.

Wir sind noch immer hier.

40 Kommentare
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Kommentare

  • Sabrina

    August 23, 2019 at 19:58
    Reply

    Oh, wie wunderschön! Der Text spricht mir aus der Seele und besser hätte man es wohl nicht in Worte fassen können. Vielen Dank. Manchmal tut es einfach gut zu wissen das man nicht alleine ist. Liebe Grüße! ❤️

    • Emma denkt.
      to Sabrina

      August 24, 2019 at 6:29
      Reply

      Es freut mich so sehr, wenn meine Texte anderen das Gefühl zu schenken vermögen, nicht alleine zu sein. Vielen Dank für deine Zeilen, liebe Sabrina und herzliche Grüsse zurück zu dir.

  • Jeanette

    August 23, 2019 at 19:48
    Reply

    Liebe Michéle, Danke für diesen Text! Du weißt wahrscheinlich gar nicht, wie unglaublich viel er mir gerade bedeutet. Ich bin im Moment in einer Klinik, wegen psychischen Problemen. Manchmal schaffst du es einfach, Gefühle auszudrücken, die man eigentlich gar nicht beschreiben […] WeiterlesenLiebe Michéle, Danke für diesen Text! Du weißt wahrscheinlich gar nicht, wie unglaublich viel er mir gerade bedeutet. Ich bin im Moment in einer Klinik, wegen psychischen Problemen. Manchmal schaffst du es einfach, Gefühle auszudrücken, die man eigentlich gar nicht beschreiben kann. Wir sind noch immer hier ♥️ Read Less

    • Emma denkt.
      to Jeanette

      August 24, 2019 at 6:27
      Reply

      Liebe Jeanette, deine Worte gehen mir nah. Ich sende dir eine gedankliche Umarmung und wünsche dir ganz viel Kraft, nie versiegende Hoffnung und Geduld mit dir selbst und dem Leben. Ich freue mich, dass du hier bist. Von Herzen alles […] WeiterlesenLiebe Jeanette, deine Worte gehen mir nah. Ich sende dir eine gedankliche Umarmung und wünsche dir ganz viel Kraft, nie versiegende Hoffnung und Geduld mit dir selbst und dem Leben. Ich freue mich, dass du hier bist. Von Herzen alles Liebe und Gute. Read Less

  • Christiane

    August 23, 2019 at 19:47
    Reply

    Ich bin zutiefst berührt von deinen Worten und fühle mich verbunden mit ihnen. Du hast eine ganz besondere Gabe, Dinge in Worte zu fassen, die ich selbst kenne, für die mir aber oft die Worte fehlen..DANKE ...

  • Dani

    August 23, 2019 at 19:13
    Reply

    WOW, ? Das fegt direkt durch mein Herz. Du sprichst mir so aus der Seele. Danke liebe Michèle

    • Emma denkt.
      to Dani

      August 23, 2019 at 19:15
      Reply

      Wie schön das lesen zu dürfen, liebe Dani. Danke für deine Zeilen und Danke fürs Hiersein.

  • Stefan Geiger

    August 23, 2019 at 19:03
    Reply

    Wundervoll-mutmachende, wie stets zwischen den Zeilen bittersüß , dennoch aufbauender Text , liebe Michèle ! Alles Liebe vom Stef aus Berlin ??❤

    • Emma denkt.
      to Stefan Geiger

      August 23, 2019 at 19:12
      Reply

      Ich danke dir für deine Worte, lieber Stefan und sende herzliche Grüsse zu dir nach Berlin.

    • Stefan Geiger
      to Emma denkt.

      August 23, 2019 at 21:18
      Reply

      Danke sehr, liebe Michèleund ein wundervolles Spätsommerwochenende bei und für Euch dort in der Schwyz ?☀️??❤

    • Valea
      to Stefan Geiger

      August 23, 2019 at 19:52
      Reply

      Ich weiß an diesem Abend gar nicht wirklich etwas zu schreiben. Ich spüre tief drinnen mein Chaos wüten und hoffe auf morgen...des neuen Versuchs wegen. In der Windstille. Viele Dank für deine geteilten Worte liebe Michèle. Verliere auch Du nicht […] WeiterlesenIch weiß an diesem Abend gar nicht wirklich etwas zu schreiben. Ich spüre tief drinnen mein Chaos wüten und hoffe auf morgen...des neuen Versuchs wegen. In der Windstille. Viele Dank für deine geteilten Worte liebe Michèle. Verliere auch Du nicht den Mut den es manchmal sehr wohl braucht. Du rührst mich immer! <3 Die buntesten Grüße von mir, Valea. Read Less

    • Emma denkt.
      to Valea

      August 24, 2019 at 6:12
      Reply

      Liebe Valea, ich danke dir für deine herzlichen und offenen Worte. Ich wünsche mir für dich, dass dein inneres Chaos dir heute etwas mehr Luft zum Atmen und Leben lässt und und sende ganz liebe Grüsse zurück zu dir.

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